44. Kapitel

 

Die Sonne kletterte soeben über den Horizont, als Mikhail zusammen mit Angelica, Violet und den Kindern die Burg verließ. Patrick und die anderen Ältesten waren vor ein paar Stunden mit ihren Gefangenen fortgefahren, wollten aber bald mit einer Kutsche wiederkommen, um sie abzuholen. Doch in der Burg, wo überall Leichen herumlagen und der Gestank von Tod und Blut in der Luft hing, wollten sie nicht warten.

Violet und Angelica ließen sich auf den Stufen nieder, die vom Eingang der Burg zum Kiespfad hinabführten, der sich schlängelnd zwischen grünen Hügeln verlor. Aber Mikhail konnte sich ihnen nicht anschließen. Er war voller Unruhe. Und obwohl der Kampf gewonnen und die Kinder außer Gefahr waren, lastete ein tiefer Kummer auf seinem Herzen.

Sie war fort.

Nell war gleich nach Ramils Tod mit Morag und ihren anderen Lebensrettern verschwunden. Angelica hatte ihm zwar beschrieben, was passiert war, doch er hatte es nicht so recht verstanden. Vielleicht weil er einfach nicht den Willen aufbrachte, sich für irgendetwas zu interessieren, seit sie fort war. Sie hatte sich ihrer neuen Familie angeschlossen, der Gemeinschaft der Seher, wie Angelica ihm berichtete, allesamt Nachfahren von Druiden.

Ob sie je zu ihm zurückkehren würde? Doch warum sollte sie? Was konnte er ihr schon bedeuten, einer Seherin, die soeben ihre Familie entdeckt hatte? Ziellos wanderte er den grasigen Hügel hinab, ganz in seine düsteren Gedanken versunken. Er folgte nur seinen Füßen - auch wenn er dabei nicht vergaß, dass er sich nicht allzu weit von der Burg und von Angelica und Violet entfernen durfte. Aber der Spaziergang tat ihm gut. Die frische Morgenluft, die kühl über seinen bloßen Oberkörper strich, klärte seine Gedanken.

Und dann sah er sie.

Dort unten, in der Hügelsenke, standen sie in einem weiten Kreis beisammen, die Gesichter ihm zugewandt, als ob sie ihn erwartet hätten.

Natürlich hatten sie das. Doch da erkannte Mikhail, dass Nell nicht unter ihnen war.

Besorgt begann er den Hügel hinabzulaufen.

»Mikhail?«

Mikhail geriet fast ins Stolpern, als er ihre Stimme hinter sich hörte. Er drehte sich um. Da saß sie im Gras, die Knie angezogen, die Arme um Alexanders Hemd geschlungen. Wie hatte er sie nur übersehen können? Doch spielte es eine Rolle? Er rannte wieder hinauf und blieb ein Stück unterhalb von ihr stehen.

»Warum bist du nicht bei ihnen?«

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern, warf jedoch einen sehnsüchtigen Blick auf die Gruppe, die sich nun wieder abgewandt hatte und einander ansah.

»Verbunden zu sein ist nicht einfach, und ich muss noch viel lernen, bevor ich mich ihrer Gemeinschaft anschließen kann.« Sie schaute ihn an, nun schon etwas munterer. »Morag wird meine Lehrerin werden. Aber die anderen, sie müssen wieder gehen. Es ist uns nicht bestimmt zusammenzuleben. Die Verbindung ist zu stark, es wäre schwierig, ein eigenständiges Leben zu führen.«

Mikhail verstand zwar nicht ganz, war aber auf einmal voller Hoffnung. Wenn sie nicht bei ihrer Gemeinschaft leben konnte, dann würde sie vielleicht mit ihm ...?

»Was willst du also tun?«

Nell blinzelte, als habe sie überhaupt noch nicht darüber nachgedacht. »Ich weiß nicht ...«

»Dann bleib bei mir«, sagte Mikhail rasch, bevor ihn der Mut verlassen konnte. 

»Bei dir?«, fragte sie, und ihre Miene wurde leer. Ihr Blick wechselte dabei zwischen ihm und dem Kreis der Seher hin und her.

Mikhail trat näher, ging vor ihr in die Knie, nahm sie bei den Händen.

»Bleib bei mir, Nell. Ich werde vielleicht nicht sehr lange leben, aber in der Zeit, die mir noch bleibt, will ich dich lieben und für dich sorgen. Ich weiß, es ist kompliziert ... wahrscheinlich hast du Angst vor dem, was meine Familie ist ...«

»Nein, ich habe keine Angst«, unterbrach ihn Nell lächelnd. »Deine Schwester ist eine Gedankenleserin, deine Cousine kann Menschen aus meilenweiter Entfernung riechen, dein Schwager und deine Freunde sind Vampire ...« Sie lachte.

Mikhail, der fürchtete, dass die Aufregung der letzten Stunden ihr vielleicht zu viel geworden war, sagte besorgt: »Nell ...«

»Nein, nicht Nell. Meine Mutter hat mich auf den Namen Storm getauft.« Storm schaute ihm fest in die Augen. »Sie war eine weise Frau. Eine liebevolle Mutter. Und sie hat all das hier vorausgesehen.« Sie entzog ihm ihre Hände und deutete um sich. »Sie wusste das mit den Vampiren, wusste von der Gefahr, die mich erwartete. Und sie hat dich gesehen.« Ihre Stimme war zuletzt ganz leise geworden. Ein Windstoß wehte ihr das Haar ins Gesicht und dann wieder fort. »Sie hat gesagt, ich würde mich eines Tages in einen Prinzen verlieben. Wer hätte gedacht, dass sie das wörtlich gemeint hat?«

Mikhail lachte erleichtert auf. Er beugte sich vor, hob sanft ihr Kinn und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.

»Mikhail?«, fragte sie an seinem Mund.

»Hmm?«

»Darf ich dich was Dummes fragen?«

Mikhail richtete sich auf. »Was denn?«

»Nun, meine Mutter ließ mich als Kind einen russischen Satz auswendig lernen. Aber sie hat mir nie gesagt, was er bedeutet...«

Neugierig setzte sich Mikhail neben sie. »Und der wäre?«

 

 

Der Wissenschaftler hat seine Wunder gewirkt, und dein

Herz ist gesund und stark. Ihr habt meinen Segen, Prinz.

Ich wünsche dir ein langes, glückliches Leben mit meiner

Storm. Und jetzt mach ihr endlich einen Heiratsantrag,

du hast schon viel zu lange gewartet.

 

Mikhail übersetzte sich den Satz im Geiste und begann zu lachen.

»Was ist?«, fragte Nell.

»Nichts, Liebes.« Mikhail küsste sie lächelnd. »Es ist nur, deine Mutter möchte, dass ich dir endlich einen Heiratsantrag mache.«

Storm wurde knallrot und wandte verlegen den Blick ab, aber Mikhail zog sie fest an sich.

»Ich liebe dich. Und jetzt heirate mich«, flüsterte er ihr ins Ohr.

»So machst du einer Frau einen Heiratsantrag? Du befiehlst einfach ...«

»Schon gut, schon gut!« Mikhail grinste von einem Ohr zum anderen und hielt die zappelnde Storm fest. »Lass mich's noch mal versuchen, in Ordnung?«

Sie hielt still und schaute ihn mit erwartungsvoll hochgezogenen Brauen an.

»Meine Geliebte. Meine Storm. Willst du meine Frau werden?«

Storm machte den Mund auf, um zu antworten, schloss ihn aber sogleich wieder. Offenbar gab es noch einiges zu bedenken. Mikhail lachte.

»Also gut, wie lauten deine Forderungen?«

»Na ja ...« Sie grinste schamlos. »Ich will trotzdem backen. Ich meine, in der Bäckerei, die Margaret für mich eröffnen will ... und ich würde gerne ab und zu nach New Hampton fahren und Georgina, Adam und Sarah besuchen.«

»Einverstanden. Sonst noch was?«

Sie neigte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube, das wäre im Moment alles.«

»Im Moment?«, lachte er.

»Ja, im Moment«, antwortete sie fest. Und dann driftete ihr Gelächter den Hügel hinab zu der Gruppe der Seher und darüber hinweg.

 

Ende

Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
titlepage.xhtml
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_000.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_001.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_002.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_003.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_004.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_005.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_006.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_007.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_008.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_009.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_010.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_011.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_012.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_013.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_014.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_015.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_016.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_017.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_018.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_019.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_020.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_021.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_022.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_023.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_024.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_025.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_026.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_027.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_028.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_029.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_030.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_031.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_032.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_033.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_034.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_035.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_036.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_037.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_038.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_039.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_040.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_041.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_042.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_043.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_044.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_045.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_046.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_047.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_048.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_049.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_050.htm
Hepsen_Mina_03-Unsterblich wie die Liebe_split_051.htm